17. Dezember 2007

Glacier Lily Growing in Snow, Olympic National Park, Washington, USA
Das Gleichnis von der Lilie

Es war einmal eine Lilie. Die stand an einer abseits gelegenen Stelle an einem kleinen rinnenden Wasser und hielt gute Nachbarschaft mit ein paar Nesseln sowie mit einer Anzahl anderer Blümchen da in der Nähe. Die Lilie war nach der wahrhaften Beschreibung des Evangeliums schöner gekleidet als Salomo in all seiner Herrlichkeit, dabei sorglos und froh den lieben langen Tag. Unmerklich und in Glückseligkeit glitt die Zeit dahin, gleich dem rinnenden Wasser, das rieselt und dahinzieht.
Aber da traf es sich, dass eines Tages ein Vögelchen kam und die Lilie besuchte. Am nächsten Tag kam es wieder, blieb dann mehrere Tage fort und kehrte sodann wieder. Das dünkte der Lilie seltsam und unerklärlich; sie konnte es nicht fassen, warum der Vogel nicht auf derselben Stelle blieb wie die kleinen Blumen, und es dünkte sie sonderbar, daß der Vogel so launenhaft sein konnte. Wie das nun oft vorkommt, so geschah es auch der Lilie: gerade weil der Vogel so launenhaft war, verliebte sie sich immer mehr in ihn.
Dieses Vögelchen war ein schlimmer Vogel; statt sich in die Lage der Lilie zu versetzen, statt sich an ihrer Schönheit zu freuen und sich mit ihr ihrer unschuldiger Glückseligkeit zu erfreuen, wollte er sich dadurch wichtig machen, dass er seine Freiheit fühlte und die Lilie ihre Gebundenheit fühlen liess. Und nicht nur das -: auch war das Vögelchen redselig, es erzählte von allem möglichen, Wahres und Unwahres; es sprach von weit prächtigeren Lilien, die an anderen Stellen in großer Menge stünden und wo eine Freude und Munterkeit, ein Duft, eine Farbenpracht und ein Vogelgezwitscher herrsche, dass es nicht zu sagen sei. So erzählte der Vogel, und jede seiner Erzählungen endete gerne mit der für die Lilie demütigenden Bemerkung, im Vergleich mit solcher Herrlichkeit sehe sie wie ein Nichts aus, ja, sie wäre so unbedeutend, dass es sich überhaupt frage, mit welchem Rechte sie sich eine Lilie nenne.
So wurde die Lilie bekümmert, und je mehr sie auf den Vogel hörte, desto mehr wuchs ihre Bekümmernis. Nachts schlief sie nicht mehr ruhig, und morgens wachte sie nicht mehr froh auf. Sie fühlte sich gefangen und gebunden, das Rieseln des Wassers fand sie langweilig, und der Tag wurde ihr lang. Nun fing sie an, sich voller Selbstbekümmernis, solange der Tag währte, mit sich selber und mit ihren Lebensverhältnissen zu beschäftigen.
"Ganz schön mag das ja sein", sagte sie zu sich selber, "hin und wieder und um der Abwechslung willen auf das Rieseln des Baches zu lauschen. Aber Tagein, Tagaus immer dasselbe zu hören, das ist doch gar zu langweilig". -"Es kann angenehm sein", sagte sie bei sich, "hin und wieder an abgelegener Stelle zu stehen und einsam zu sein; aber so das ganze Leben hindurch vergessen zu sein, ohne Gesellschaft zu sein oder nur durch die Gesellschaft von Brennesseln zu haben, was doch wohl für eine Lilie keine Gesellschaft ist, das ist nicht auszuhalten." -"Und dann", meinte sie weiter bei sich, "und dann so gering auszusehen und so unbedeutend zu sein, wie es der kleine Vogel von mir behauptet, - ach, warum bin ich nicht an anderer Stelle und unter anderen Lebensbedingungen aufgewachsen?! Ach, warum bin ich keine Kaiserkrone geworden!? Das Vögelchen hatte ihr nämlich erzählt, unter allen Lilien gelte die Kaiserkrone für die schönste und werde von allen Lilien beneidet. Um so mehr kam es der Lilie zu Bewusstsein, wie die Bekümmernis nach ihr griff. Aber dann redete sie sich vernünftig zu, - aber doch nicht so vernünftig, dass sie sich die Bekümmernis aus dem Sinn schlug, sondern so, dass sie sich selber davon überzeugte, wie berechtigt ihre Kümmernis sei; denn, so sagte sie, "mein Wunsch ist ja kein unvernünftiger Wunsch. Ich verlange ja nichts Unmögliches, dass ich gar etwas werden möchte, was ich nicht bin, zum Beispiel ein Vogel. Nein, - mein Wunsch ist lediglich der, ich möchte eine prächtige Lilie werden oder doch auch die prächtigste von allen."
Während alledem flog das Vögelchen hin und her, und mit jedem seiner besuche und mit jedem Abschied wuchs die Unruhe der Lilie. Schließlich vertraute sie sich dem Vogel ganz an. Eines Tages kamen sie überein, am nächsten Morgen solle eine Veränderung vor sich gehen, und der Bekümmernis solle ein Ende gemacht werden. Zeitig am nächsten Morgen kam das Vögelchen; mit seinem Schnabel hackte es das Erdreich an der Wurzel der Lilie los so dass sie frei werden konnte. Als das geglückt war, nahm der Vogel die Lilie unter seine Flügel und flog mit ihr von dannen. Es war nämlich verabredet worden, der Vogel solle mit der Lilie dorthin fliegen, wo die prächtigen Lilien blühten; dort solle er ihr dann beim Einpflanzen behilflich sein, um zu erproben, ob es der Lilie nicht durch die Ortsveränderung und die neue Umgebung glücke, in der Gesellschaft der vielen eine prächtige Lilie oder gar eine Kaiserkrone zu werden, die von allen anderen beneidet werde.
Ach unterwegs welkte die Lilie. Wäre es der bekümmerten Lilie genug gewesen, dass sie eine Lilie war, so wäre sie nicht bekümmert geworden. Hätte die Bekümmernis in ihr keine Stätte gefunden, so wäre sie stehen geblieben, wo sie stand, - wo sie in all ihrer Schönheit stand. Wäre sie stehen geblieben, wäre sie gerade die Lilie gewesen, von der der Pfarrer am Sonntag sprach, als er das Wort des Evangeliums wiederholte: "Sehet die Lilien: ich sage euch, dass Salomo in all seiner Herrlichkeit nicht gekleidet war wie sie"...
Die Lilie ist der Mensch. Das schlimme Vögelchen ist der unruhige Gedanke des Vergleichens...
Wenn nun der Mensch an die Bekümmernis der Lilie, die eine Kaiserkrone werden wollte, nicht ohne Lächeln kann, und wenn er sich vergegenwärtigt, dass sie unterwegs verstarb, - o, dann bedenke, Mensch, dass es zum weinen wäre, wenn sich ein Mensch ebenso unvernünftig bekümmerte, - ebenso unvernünftig, - doch nein -: wie dürfte ich das so stehen lassen und wie dürfte ich ernstlich die göttlich bestellten Lehrmeister beschuldigen, - die Lilien auf dem Felde! Nein, - so bekümmerten sich die Lilien nicht, und gerade deswegen sollten wir von ihnen lernen.
Wenn es einem Menschen gleich der Lilie genügt, dass er ein Mensch ist, so wird er nicht krank durch zeitliche Bekümmernis, und wenn er nicht durch zeitliche Dinge bekümmert wird, so bleibt er auf jener Stelle stehen, die ihm angewiesen ist, und wenn er da verharrt, dann ist es fürwahr so, dass er durch sein Menschsein herrlicher ist als Salomos Herrlichkeit.
"Lilie", Soren Kierkegaard

5. Dezember 2007

Wo Himmel und Erde sich berühren


Es waren einmal zwei Mönche, die lasen miteinander in einem alten Buch, am Ende der Welt gäbe es einen Ort, an dem Himmel und Erde sich berührten und das Reich Gottes begänne. Sie beschlossen, ihn zu suchen und nicht umzukehren, ehe sie ihn gefunden hätten. Sie durchwanderten die Welt, bestanden unzählige Gefahren, erlitten alle Entbehrungen, die eine Wanderung durch die ganze Welt fordert, und alle Versuchungen, die einen Menschen von seinem Ziel abbringen können. Eine Tür sei dort, so hatten sie gelesen. Man brauchte nur anzuklopfen und befände sich im Reich Gottes.


Schliesslich fanden sie, was sie suchten. Sie klopften an die Tür, bebenden Herzens sahen sie, wie sie sich öffnete. Und als sie eintraten, standen sie zu Hause in ihrer Klosterzelle und sahen sich gegenseitig an. Da begriffen sie: Der Ort, an dem das Reich Gottes beginnt, befindet sich auf der Erde, an der Stelle, die Gott uns zugewiesen hat.


Aus Russland